top of page

Ist das gewöhnliche Duschen ein Ersatz für die rituelle Reinigung?

Duschen und auf zum Gebet? Warum Duschen und rituelle Reinigung nicht gleichzusetzen sind und welche Dinge bei einer rituellen Reinigung den Unterschied machen, erfahrt ihr im folgenden Artikel.

Ein Duschkopf mit gemalten Wassertröpfchen und die Ecke eines Gebetsteppich.

Die rituelle Reinigung hat vorgeschriebene Abläufe

Die muslimische Rechtstradition schreibt vor, dass sich Muslim*innen nach bestimmten Handlungen und Zuständen rituell reinigen sollen. Diese Reinigung unterscheidet sich von der gewöhnlichen Körperpflege. Tägliches Duschen befreit daher nicht von der rituell vorgeschriebenen Reinigung. Es soll z.B. eine rituelle Reinigung nach dem Geschlechtsverkehr, der Menstruation und dem Toilettengang vollzogen werden. Diese rituelle Reinigung hat drei Arten:


  1. Kleine Waschung (arab. wudūʿ): Waschung der Hände bis zu den Ellenbogen, des Gesichts und der Füße und das Anfeuchten der Haare,
  2. Große Waschung (arab. ghusl): Waschung des ganzen Körpers,
  3. Ersatzreinigung (arab. tayammum): bei Fehlen von Wasser für die ersten beiden Arten der Waschung, das Benetzen der Hände bis zu den Ellenbogen und des Gesichts mit trockener, reiner Erde, Sand oder Staub.

Rituelle Reinheit gleicht nicht der physischen Reinheit

Die rituelle Reinigung unterscheidet sich von der gewöhnlichen Körperhygiene. Sie ist ein symbolischer Akt der Reinigung. Denn für die rituelle Reinigung muss der Körper physisch rein, also von Verunreinigung befreit sein. Sie wird nicht immer bei jeder körperlichen Verunreinigung vollzogen.


Beispiele für die Notwendigkeit der rituellen Reinigung sind der Toilettengang und der Schlaf. Sie führen dazu, dass man die kleine Waschung vollzieht. Der Geschlechtsverkehr und die Menstruation bedingen eine große Waschung. Entsprechend ist der Zustand der rituellen Reinheit solange gültig, solange der*die Gläubige z.B. die Toilette nicht aufsucht oder Geschlechtsverkehr hat.

Tätigen wir z.B. eine sportliche Aktivität und schwitzen dabei, müssen wir die rituelle Reinigung nicht vollziehen. Wir würden aber in aller Regel für die Körperhygiene danach Duschen. Es ist auch keine rituelle Reinigung notwendig, wenn man z.B. barfuß auf der Wiese läuft und dabei in eine Pfütze tritt. Wir würden uns die Füße waschen, um sie zu reinigen, es wäre aber keine rituelle Reinigung fällig.


Da sich die rituelle Reinigung von der gewöhnlichen Körperhygiene unterscheidet, sind Vorschriften vorhanden, die eingehalten werden müssen. Duscht jemand ohne die Absicht (arab. niyya) dazu zu haben, sich rituell zu reinigen, ist diese Person trotz physischer Reinheit rituell unrein. Obwohl die Ganzkörperwaschung als Bedingung für die große Waschung erfüllt wird, wurde die Bedingung der dazugehörigen Absichtsbekundung nicht eingehalten.

Rituelle Reinheit ist nur eine Voraussetzung für den Vollzug ritueller Handlungen

Rituelle Reinheitsvorschriften stehen nur mit rituellen Handlungen in Verbindung. Ist jemand rituell unrein, kann er*sie seinen*ihren Alltag trotzdem problemlos bewältigen. Er*Sie darf nur keine rituellen Handlungen vollziehen, wie z.B. das Gebet zu verrichten.


Der Mensch kann nach der Mehrheitsauffassung muslimischer Gelehrter seinen rituell unreinen Zustand nicht auf andere übertragen. Er*Sie ist nicht verunreinigend. Der Grund liegt darin, dass im islamischen Recht zwei Typen von Unreinheit unterschieden werden. Zum einen gibt es die physische Unreinheit von Gegenständen, dem Körper und des Ortes. Das wird nadschas genannt. Kot etwa ist unrein und kann sowohl den Gebetsort als auch die Kleidung und den Körper verunreinigen. Solche Verunreinigungen bedingen eine physische Reinigung mit gewöhnlichen Reinigungsmöglichkeiten. Daneben gibt es rituell unreine Zustände, die nur Personen annehmen können und nicht übertragbar sind. Das wird hadath genannt. Hadath kann nur durch die oben beschriebenen rituellen Vorschriften behoben werden.

Rituelle Reinigung ist eine Gehorsamspflicht gegenüber Gott

Die rituelle Reinigung ist eine Handlung, die göttlich vorgeschrieben ist. Sie gehört zu den Gehorsamstaten, die keinen klaren Rechtsgrund besitzen. Sie sind also bedingt rational erklärbar. Die Gelehrten versuchen zwar einen Grund für die rituelle Reinigung auszumachen, sie reduzieren ihn aber nicht darauf. Es geht um die Ausführung selbst: Man soll gehorsam leisten.


Bekannt ist, dass man die rituelle Reinigung als eine Art Reinigung von Sünden versteht. Dabei sind Handlungen, die zur rituellen Unreinheit führen, keine Sünde, von denen sich die Gläubigen reinigen sollen. Geschlechtsverkehr ist keine Sünde, auch der Toilettengang nicht! Man reinigt sich also von den Sünden, die ungeachtet dessen begangen werden. Nicht selten sagen die Gelehrten, dass der Sinn der rituellen Reinheit die Körperpflege fördert. Sie beschränken sie aber nicht darauf.

Wer stellt die rituellen Reinheitsvorschriften fest?

Wie genau die rituellen Reinheitsvorschriften ausformuliert werden müssen, ist Auslegungssache. Schauen wir uns kurz noch einmal die kleine Waschung an. Sie wird mit Rücksicht auf Sure 5:6 ausformuliert. Dort wird befohlen vier Körperteile zu waschen bzw. zu befeuchten. Der Wortlaut dieser Koranpassage lässt zwei Deutungsoptionen zu:


  1. Die Hände bis zu den Ellenbogen, das Gesicht und die Füße sollen gewaschen, die Haare benetzt werden.
  2. Die Hände bis zu den Ellenbogen und das Gesicht sollen gewaschen, die Haare und die Füße sollen benetzt werden.


Beide Auslegungen sind legitim. Die Sunniten folgen der ersten und die Schiiten der zweiten Deutung. Daneben lässt der Koran viele Fragen der rituellen Reinigung und der Unreinheit offen. Der Prophet Muhammad hat diese Lücken geschlossen. Das, was er dazu sagte und tat wurde in Form von Berichten überliefert. Diese Überlieferungen sind vielfältig und wurden erst ca. 200 Jahre nach seinem Ableben systematisch in Sammlungen zusammengetragen. Es lässt sich also fragen, was von ihm tatsächlich überliefert wurde und wie genau diese Überlieferung in Verbindung mit dem Koran ausgelegt werden müssen.


Aus diesem Auslegungsprozess heraus werden Vorschriften formuliert. Dafür sind spezielle Fertigkeiten notwendig, wie das Beherrschen von Techniken für die Interpretation der religiösen Texte, die Fähigkeit festzustellen, ob eine Überlieferung authentisch ist und Kenntnisse darüber, wann diese Überlieferungen entstanden sind. Die Personen, die diese Fähigkeiten haben, also die Rechtsgelehrten, haben gemeinsam versucht Lösungen zu formulieren. Daraus sind verschiedene Rechtsschulen entstanden.

SERDAR KURNAZ

Serdar Kurnaz ist Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das könnte dich auch interessieren
📚

Infobox

Benutzte Quellen

  • Conermann, Stephan: Reinheitsvorstellungen im Islam. In: Stephan Conermann: Mamlukica. Studies on the History and Society of the Mamluk Period/Studien zu Geschichte und Gesellschaft der Mamlukenzeit. Göttingen 2013. S. 427-46.
  • Ibn Rushd. The Distinguished Jurist’s Primer. A translation of Bidāyat Al-Mujtahid. Übers. von Imran Ihsan Khan Nyazee. Bd. 1. London: Garnet, 1994.
  • Katz, Marion Holmes: Body of Text. The Emergence of the Sunnī Law of Ritual Purity. Albany, 2002.

Weiterführende Quellen

  • Krawietz, Birgit: Vom Nutzen und Nachteil ritueller Unreinheit – Identitätsstiftung durch islamische Reinheitsregeln. In: Angelika Malinar/Martin Vöhler/Bernd Seidensticker: Un/Reinheit. München 2009. S. 67–102.
  • Lowry, Joseph E.: Ritual Purity. In: Jane Dammen McAuliffe: Encyclopeadia of the Qurʾān, Bd. 4. Leiden/Boston 2004. S. 498–508.
  • Maghen, Ze’ev:“Close Encounters: Some Preliminary Observations on the Transmission of Impurity in Early Sunnī Jurisprudence. In: Islamic Law and Society; 6/3. 1999. S. 348–92.
  • Gauvain, Richard: Ritual Rewards: A Consideration of Three Recent Approaches To Sunni Purity Law. In: Islamic Law and Society; 12/3. 2005. S. 333–93.
  • Reinhart, A. Kevin: Contamination. In: Jane Dammen McAuliffe: Encyclopaedia of the Qurʾān, Bd. 1. Leiden/Boston/Köln 2001. S. 410–12.
  • Reinhart, A. Kevin: Impurity/No Danger. In: History of Religions; 30/1. 1990. S. 1–24.
  • Schrode, Paula: Reinheit – Islamisch. In: Heribert Hallermann, Thomas Meckel, Michael Droege and Heinrich de Wall: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. [https://dx.doi.org/10.30965/9783506786395_0419 zuletzt abgerufen am 20.01.2021]

bottom of page