Müssen Muslim*innen Angst vor Gott haben?
Einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe im Koran lautet taqwā. Häufig wird dieser Begriff mit „Gottesfurcht“ übersetzt. Doch ist das die einzig mögliche Übersetzung und was meint „Gottesfurcht“ eigentlich? Lust auf eine Spurensuche?

Die Grundbedeutungen von taqwā
Jede Sprache gehört einer Sprachfamilie an, also einer Gruppe von Sprachen, die einen gemeinsamen Ursprung haben und daher Ähnlichkeiten aufweisen. Arabisch gehört zu der semitischen Sprachfamilie. Diese ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich Wörter in der Regel von drei Grundbuchstaben ableiten. Die drei Grundbuchstaben bei taqwā sind w-q-y (gesprochen: wāw – qāf – yā; als Wort: waqā). Schaut man im Wörterbuch nach der Grundbedeutung dieser Buchstabenkombination und ihren Ableitungen, so ist das erste erstaunliche zu entdecken. Als Grundbedeutung wird unter anderem:
- beschützen,
- auf etwas gut aufpassen,
- etwas abschirmen,
- Schutz geben
genannt. In einer Ableitung der Grundbuchstaben (ittaqā) treten die Bedeutungen:
- sich bewusst sein,
- behutsam sein,
- sich für den Schutz einsetzen
- sich vergewissern
hinzu. Sobald dasselbe Wort mit Gott verbunden wird (ittaqā allāh) nennt das Wörterbuch als Übersetzung aber auf einmal: Gott fürchten. Neben dieser spannenden Wendung in der Wortübersetzung wird zumindest schon mal deutlich, dass diese Gottesfurcht offensichtlich etwas mit einem Bewusstsein, mit Schutz und Achtsamkeit zu tun hat. Denn von derselben Grundbuchstaben abgeleitete Wörter stehen in semitischen Sprachen immer in einem Bedeutungszusammenhang. Für den Begriff taqwā selbst hält das Wörterbuch im Übrigen folgende Übersetzungen bereit:
- Frömmigkeit
- Gottergebenheit
- Gläubigkeit
- Gottesfurcht.
Was sagen verschiedene Gelehrt*innen und Wissenschaftler*innen zur Übersetzung?
Wortbedeutungen sind im ständigen Wandel. Welche Wortbedeutung gerade aktuell gültig ist, wird immer von den Sprechenden durch ihren Wortgebrauch bestimmt. So konnte man früher bspw. in Deutsch ohne Probleme eine Frau als Weib bezeichnen, weil es als neutral wahrgenommen wurde. Das ist heute nicht mehr so.
Ein Forscher namens Izutsu hat sich mit Wortbedeutungen im Koran sehr genau auseinandersetzt. Er untersuchte unter anderem, wie sich die Wortbedeutung von taqwā während der 23-jährigen Offenbarungszeit des Koran änderte. So stand am Anfang eine fromme Furcht vor Gott wegen der Sorge vor der Strafe beim Jüngsten Gericht im Vordergrund (z.B. Sure 5, Vers 3). In den später offenbarten Versen wird dieser Bezug zum Jüngsten Gericht jedoch immer weniger. Schließlich bezog sich taqwā nur noch auf die persönliche Frömmigkeit eines jeden gläubigen Menschen (z.B. Sure 49, Vers 13). Entsprechend Izutsus Analyse bedeutet also taqwā je nach Offenbarungszeitpunkt der jeweiligen Verse im Koran etwas anderes.
Darüber hinaus gab und gibt es immer wieder Autor*innen, die ausgehend von der oben dargestellten Grundbedeutung argumentieren, dass es sich bei taqwā nicht um Gottesfurcht, sondern um Gottesbewusstsein handele. Dieses Gottesbewusstsein soll den Menschen helfen, sich achtsam zu verhalten. Denn Gottesbewusstsein führe dazu, dass einem stets bewusst sei, dass man eines Tages für alle seine Taten Rechenschaft ablegen muss.
Die Wissenschaftler Ray Jureidini und Said Fares Hassan, die sich vor allem mit islamischer Ethik beschäftigen, argumentieren, dass taqwā bedeute, allem Geschaffenen in der Welt mit Liebe, Sympathie und Wohlwollen zu begegnen. Somit wird taqwā zum Standard der Bewertung menschlicher Handlungen und hat einen starken sozialen Aspekt.
Farid Esack, ein südafrikanischer Theologe, meint hingegen, dass taqwā vor allem Selbstbeherrschung bedeute.
Fazlur Rahman, ein pakistanischer Theologe, ist der Ansicht, dass taqwā nicht Gottesfurcht meine, sondern die Furcht vor den Konsequenzen des eigenen Handelns. Diese Furcht entspringt dabei dem Wissen, dass die Bewertung der eigenen Taten letztlich Gott obliegt. Sie sei daher auch mit einer wahrgenommenen Verantwortung verknüpft, sich stets nach bestem Wissen und Gewissen gottgefällig zu verhalten.
Was sagen Koran und Hadith?
Im Koran ist taqwā einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe. So sagt Gott im Koran z. B.:
„...der Angesehenste von euch ist derjenige, der am meisten taqwā hat.“
Aber was bedeutet das denn nun? Ist es die Person, die am meisten Gottesfurcht hat? Diejenige, die sich am meisten Gottes bewusst ist? Diejenige, die den Geschöpfen am meisten Liebe entgegenbringt oder sich am meisten der eigenen Verantwortung für das eigene Handeln bewusst ist?
In mehreren Hadithen wird deutlich, dass taqwā auf jeden Fall eine innere Glaubenseinstellung meint , da
„taqwā im Herzen ist“,
wie mehrfach überliefert wird. Darüber hinaus wird mehrfach betont, wie es auch der Koran gern tut, dass taqwā nicht alleine reicht, sondern diese stets mit guten Taten, einem guten Charakter oder mit gutem Benehmen zu kombinieren sei. In einigen Hadithen wird sogar gesagt, dass
„ein guter Charakter taqwā sei“,
womit wieder eine neue Übersetzungsmöglichkeit entsteht.
Ganz schön verwirrend, oder? Und dabei fehlen hier noch einige Übersetzungsmöglichkeiten, wie z.B. jene von islamischen Mystiker*innen. Deutlich wird jedoch, dass jede Übersetzung ein anderes Deutungsfeld aufmacht. Und je nach Lesendem kann einem die eine oder andere Variante mehr oder weniger ansprechen. Dies kann sich natürlich auch mit der Zeit ändern. Daher: Welche Übersetzung oder Grundbedeutung sagt dir (gerade) am meisten zu?
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Infobox
Benutzte Quellen
- Alexander, Scott C. “fear”. In: Jane Dammen McAuliffe. Encyclopaedia of the Qurʾān. Volume 2. E-I. Leiden. 2002. S. 194-198.
- Esack, Farid: The Qur’an. A User’s Guide. Oxford. 2005.
- Izutsu, Toshihiko: God and Man in the Qurʾan. Semantics of the Qurʾanic Weltanschauung. Minatoku. 1964.
- Jureidini, Ray/Hassan, Said Fares: The Islamic Principle of Kafala as Applied to Migrant Workers: Traditional Continuity and Reform. In: Migration and Islamic Ethics. 2019. S. 92-109.
- Lewisohn, L., “Taḳwā”. In: P. Bearman u.a.: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. 2012. [http://dx.doi.org.ezproxy.uni-giessen.de/10.1163/1573-3912_islam_COM_1457, zuletzt abgerufen: 29.04.2021]
- Rahman, Fazlur: Major Themes of the Qurʾan. Chicago. 1980.
- Wehr, Hans. Dictionary Arabic Language. 4th Edition. [www.ejtaal.net., zuletzt abgerufen 07.06.2021]
Koranverse
- Der Gläubigste von euch, ist derjenige, der am meisten taqwā hat: Sure 49:13.
Hadithe
- Ein guter Charakter ist taqwā (z.B.): Ibn Majah. Sunan. Askese 120.
- Taqwā ist im Herzen (z.B.): Muslim. Sahīh. Buch der Tugend 2564a.