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Sunniten und Schiiten. Oder: Wie ein politischer Kampf religiös wurde

Sind Sunniten und Schiiten ganz verschieden? Und wenn ja, wie kam es eigentlich dazu? Am Anfang standen politische Konflikte. Über die Jahrhunderte hinweg wurden diese immer mehr religiös aufgeladen. So entwickelten sich Unterschiede, die heute trennen und doch zeigen, wie eng beide miteinander verbunden sind.

Bild: Harvard Art Museums/Arthur M. Sackler Museum, The Edwin Binney, 3rd Collection of Turkish Art at the Harvard Art Museums

Politische Fragen werden religiös aufgeladen

Seit den frühen Jahrhunderten des Islams gibt es einen sunnitisch-schiitischen Konflikt. Auch wenn meistens über theologische Gründe des Konflikts gesprochen wird, geht es im Kern eigentlich um politische Macht. Der politische Streit wurde im Laufe der Jahre von beiden Seiten religiös aufgeladen. Dafür verwendeten beide Seiten für ihre politischen Ziele religiöse Sprache. Neben politischen Unruhen und zahlreichen Spaltungen und Bürgerkriegen zwischen Sunniten und Schiiten bildeten sich schließlich auch auf religiöser Ebene unterschiedliche Zugänge zu den Quellen aus. Dabei wurde mittels der Interpretation der religiösen Quellen teilweise absichtlich versucht, die jeweils anderen schlecht zu machenSchauen wir uns das an ein paar Beispielen etwas genauer an.

Wer wird der neue Anführer der Muslime?

Die Muslime waren sich nach dem Tod des Propheten Muhammads mehrfach nicht darüber einig, wer ihr neuer Kalif (Anführer) werden soll, da Muhammad selbst es offen gelassen hat. Einmal mehr brach dieser Konflikt nach dem Tod Alis, der vierte Kalif (sunnitische Sicht) bzw. erste Imam (schiiitische Sicht), aus. Ali, der selber bereits um seine Macht kämpfen musste, wurde unter anderem von der politischen Gruppe der ʿAliden unterstützt. Nach dem Tod von Ali wollten die ʿAliden, dass Alis Sohn Hussein Kalif wird. Diesem Anspruch stellte sich jedoch ein mächtiger Stamm entgegen: Die Umayyaden. Diese hatten einen eigenen Favoriten.


Wie in der damaligen Zeit üblich, trafen die beiden Bewerber um das Kalifat im Kampf aufeinander. So standen sich knapp 30 Jahre nach dem Tod des Propheten erneut Muslime im Kampf gegenüber. Dieses Mal waren es der ummyyadische Favorit Yazīd und der ʿalidische Favorit Hussein, der Enkelsohn vom Propheten Muhammad. Yazīd, der die weitaus größere Armee hatte, gewann den Kampf. Dieser politische Machtkampf ist in der heutigen religiösen schiitischen Erinnerung sehr wichtig. Noch heute erinnern sich die Schiiten an die Schlacht von Kerbela mit verschiedenen Ritualen. Der einstmals politische Kampf ist im schiitischen Verständnis ein wichtiger Bezugspunkt für das religiöse Denken geworden.

Politische Unterdrückung formt einen Erlöser-Glauben

Der siegreiche Stamm der Umayyaden vereinheitlichte und strukturierte viel im neugegründeten islamischen Reich. Auch der Felsendom in Jerusalem entstand während ihrer Herrschaft. Gleichzeitig wurden die muslimischen Umayyaden bereits zu ihrer Zeit dafür kritisiert, dass sie die Menschen in ihrem Herrschaftsgebiet unterschiedlich behandelten. So wurden zum Beispiel nicht-arabische Stämme, selbst wenn sie Muslime waren, offen diskriminiert. Unter den benachteiligten Bevölkerungsschichten befand sich auch die Gruppe der schiitischen ʿAliden, die zuvor Hussein unterstützt hatten. Die ʿAliden wurden sogar systematisch von den Umayyaden bekämpft.


Mitte des 8. Jahrhunderts wurde das Herrscherhaus der Umayyaden durch das Herrscherhaus der Abbasiden ersetzt. Doch auch unter den Abbasiden verbesserte sich die Lage der ʿAliden nicht. Ständig standen sie in Gefahr, die Gunst der Kalifen zu verlieren. Dies glich in damaliger Zeit einem Todesurteil. Der Gedanke eines Erlösers, welcher auch im Judentum, Christentum und in Teilen des sunnitischen Islams eine wichtige Rolle spielt, entwickelte sich in dieser Zeit zu einem wichtigen Bestandteil der schiitischen Theologie.

Der politische Machtanspruch wird immer mehr religiös argumentiert

Neben den Abbasiden griffen auch schiitische Herrscherhäuser nach der Macht. Ab dem 10. Jahrhundert waren die schiitischen Herrscherhäuser der Buyiden und Fatimiden zu mächtigen politischen Gegnern herangewachsen. Mit dieser neuen politischen Macht bildete sich ein neues schiitisches Verständnis heraus. Besonders in dieser Zeit lässt sich aus den Quellen entnehmen, dass die Schiiten das Anrecht auf die Nachfolge des Propheten für Ali beanspruchten. Sie belegten dies mit Aussagen des Propheten und Ereignissen aus dessen Leben: So habe der Prophet selber bereits zu Lebzeiten auf Ali gedeutet. Bemerkenswert ist, dass sowohl schiitische Geschichtswerke als auch schiitische Hadith- und Rechtsbücher in dieser Zeitspanne entstehen. Gleichzeitig entstehen in Abgrenzung dazu auf der sunnitischen Seite die prägenden Werke, die bezeugen sollen, dass der Prophet auf Abū Bakr als Nachfolger gedeutet habe. Der politische Machtanspruch wird also von beiden Seiten religiös argumentiert.

Sunniten und Schiiten haben sich gegenseitig geprägt

Die Beispiele zeigen, wie politische Geschehnisse religiös gefüllt wurden. Doch auch abseits von politischen Fragen, haben sich Sunniten und Schiiten befruchtet: Ein Beispiel hierfür ist die Tradition, den Geburtstag des Propheten zu feiern. Diese wurde sehr wahrscheinlich vom schiitischen Herrscherhaus der Fatimiden eingeführt und später von den Sunniten übernommen.


So sind Sunniten und Schiiten die zwei Seiten einer Medaille. Auch wenn sich die beiden Parteien zunächst nur politisch gegenüberstanden, entwickelten sich aufgrund der politischen Lage unterschiedliche theologische Grundverständnisse. Der Drang, seinen eigenen Standpunkt religiös und theologisch zu untermauern, hat dazu geführt, dass sowohl Schiiten als auch Sunniten Geschichte nach ihren Vorlieben deuteten. Die geschichtliche „Wahrheit“ ist heute häufig nicht mehr zugänglich. Dieser Prozess wurde durch die Interpretation und Sammlung der jeweiligen theologischen Quellen verfestigt. 


Betrachtet man den heute angeblich religiösen Konflikt aus einer historischen und kritischen Perspektive, wird klar, dass ein in den Anfängen politischer Konflikt später religiös aufgeladen wurde. Dieser politische Konflikt aus den Anfängen des Islam bietet in seinem religiösen Deckmantel leider noch heute Ansatzpunkte für Konflikte. So kommt es, dass auch heute noch Muslime, anstatt von einander zu lernen, sich voneinander abgrenzen. Was wohl der Prophet dazu sagen würde?

TUĞRUL KURT

Tugrul Kurt promoviert seit 2018 in Frankfurt an der Goethe Universität im Fach Islamische Studien, Bereich Koranexegese. Seit 2019 vertritt er die Juniorprofessur für Islamische Theologie an der Akademie der Weltreligionen.

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Infobox

Benutzte Quellen

Amirpur, Katajun, Der Schiitische Islam, Stuttgart: Reclam Verlag, 2015.

Gleave, Robert, Scripturalist Islam: The History and Doctrines of the Akhbārī Shīʿī School, Leiden-Boston: 2007.

Halm, Heinz, Die Schiiten, C.H. Beck, 2015.

Krämer, Gudrun, Die Geschichte des Islam, München: C.H. Beck, 2005.

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